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Titel
Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300


Autor(en)
Sablonier, Roger
Anzahl Seiten
280
Preis
€ 28,80
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Kerstin Hitzbleck, Universität Bern

Karl der Große war Deutscher, Charlemagne war Franzose und die Schweiz wurde am 1. August 1291 gegründet. So einfach ist es nicht mehr. Dass jede Gegenwart sich eine passende Vergangenheit schafft und es die objektive geschichtliche Wahrheit nicht gibt, gehört mittlerweile zu den Allgemeinplätzen der Forschung. In den Kreisen eines geschichtlich interessierten Publikums sieht dies indes oft noch anders aus, auch in der Schweiz. Deshalb ist der Titel „Gründungszeit ohne Eidgenossen“ als Rundumschlag gegen liebgewonnene Ursprungslegenden zu verstehen, die sich auf jenes mythische Datum im August beziehen, an dem die Vertreter von Uri, Schwyz und Unterwalden sich auf dem Rütli zum Bund gegen die österreichische Fremdherrschaft zusammentaten, um in urdemokratisch-freiheitlicher Gesinnung und weiser Voraussicht den Grundstein zu dem zu legen, was 1848 in der neuen Eidgenossenschaft sein historisches Ziel finden sollte. Sablonier distanziert sich von diesem Narrativ der Befreiungstradition und untersucht, was damals wirklich gewesen ist. Er bedient sich dazu eines breiten methodischen Instrumentariums, das die 14C-Untersuchung der zeitgenössischen Urkunden – darunter der Bundesbrief von 1291 – einschließt. Auf nur 214 reich illustrierten Seiten entwirft er für ein breiteres Publikum ein facettenreiches Bild der Innerschweiz um 1300, wobei der recht ausführliche Anmerkungsapparat und das Literaturverzeichnis zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema einladen. Die Anhänge bringen Details zur Überlieferung der Herrscherurkunden in der Schweiz wie zu den Ergebnissen der 14C-Proben. Ein Glossar hilft dem Uneingeweihten beim Verständnis fachsprachlicher Termini, während auf ein Register leider verzichtet wurde. Die auffällig fehlerhafte Transkription der Quellenausschnitte dokumentiert vielleicht das Ansinnen, dem Laien durch Vereinfachung der Quellensprache die Lektüre zu erleichtern.

Sablonier hat seine ereignisgeschichtlich konsequent auf die Zeit um 1300 beschränkte Darstellung in sieben Kapitel unterteilt, denen methodische Überlegungen vorausgehen, während das Nachwort der Frage gilt, ob die Schweiz um 1300 entstand (Nein). Als basso continuo bleibt stets die Konstruktion der Ereignisse um Rütlischwur, Tellentat und Bundesbrief hörbar und schafft so eine doppelte Erzählung: Neben der detaillierten Schilderung des quellenmäßig verbürgten Geschehens erklingt stets der Ton der "Schweizerischen Gebrauchsgeschichte".1 Das Buch ist deshalb auch ein niedrigschwelliger Beitrag zur Historiographiegeschichte der Schweiz.

In einem ersten Teil "Adel und Herrschaftswandel" widmet Sablonier sich einem von ihm als zentral herausgestellten Aspekt der Schweizer Geschichte im Mittelalter. Er schildert die vielfältigen sozialen Differenzierungs- und Selektionsprozesse, die schließlich zum Niedergang des Schweizer Adels führten – ohne dass die bäuerliche Unterschicht daran nennenswerten Anteil gehabt hätte. Generell charakterisiert er die Innerschweiz als von weltlicher Feudalherrschaft nur lückenhaft erfasst, die durch den Niedergang etwa der Herrschaft von Rapperswil weiter erodierte. Zentraler für die politische Situation war die klösterliche Herrschaft, die im zweiten Teil vor allem unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten untersucht wird. Denn lokale Herrschaft war im ganzen innerschweizerischen Raum vorwiegend klösterliche Herrschaft. Klösterliche Herrschaftsintensivierung und neue Formen der Großviehwirtschaft – Schweizerpferde waren bei italienischen Kriegsausrüstern sehr gefragt – hätten zu sozialer Mobilität und sozialen Konflikten geführt, stärkten aber auch die Entwicklung einer organisierten bäuerlichen Oberschicht.

Neben weltlicher und geistlicher Herrschaft stellt Sablonier die Rolle der Städte und des Handels vor allem mit Italien heraus. Neben dem Unvermögen der Stadt Zürich, nach dem Untergang der Herrschaft Rapperswil den Einfluss auf sein Hinterland zu verstärken, spielte besonders die Anbindung der Innerschweiz an den Wirtschaftsraum der Lombardei eine entscheidende Rolle für die selbständige Organisation der Gemeinden in der Innerschweiz. Eine Entwicklung, die freilich auch andernorts zu beobachten ist.

In einem Abschnitt über "Reichsvogtei und Waldstätte" kommt Sablonier dann auf die Rolle der königlichen Privilegien zu sprechen, deren "libertates" bisweilen als individuelle, bürgerliche Freiheiten im modernen Sinne interpretiert worden sind. In einer akribischen Analyse der Überlieferungslage präpariert er die Bedeutung Werners von Homberg als Erbe der Grafschaft Rapperswil heraus: Heinrich VII. habe demnach im Jahre 1309 den erfahrenen Kriegsunternehmer für seine Italienfahrt zu gewinnen versucht, indem er ihm als Reichsvogt den Anspruch auf eine Reichssteuer auf dem Gebiet von Schwyz sicherte. Auf dem Gebiet der Reichsvogtei hätten sich nach dem Verschwinden Werners von Homberg die Waldstätte dann als selbständig handelnde Einheiten konstituiert.

Sodann kommt Sablonier mit der Schlacht bei Morgarten auf ein Ereignis aus dem "ehernen Kanon der eidgenössischen Frühgeschichte" zu sprechen, als nach traditioneller Diktion die habsburgische Übermacht von mutigen Schweizer Berglern in die Flucht geschlagen wurde. Er kann herausstellen, dass die berühmt gewordenen Ereignisse ihren Hintergrund eher im Konflikt zwischen Habsburg und Homberg um die Vogtei über Einsiedeln haben. Den Morgarten-Brief von 1315 deutet er als Dokument der Herrschaftssicherung, in dem Schwyz, Uri und Unterwalden sich als Vertreter der Hombergischen Reichsvogtei zusammenschließen, um Habsburg wie Ludwig dem Bayern gegenüber als Vertragspartner auftreten zu können. Als dann Werner von Homberg im Jahre 1320 in Italien verschwand, sei mit dem Brief von Morgarten der Grundstein zur Eigenständigkeit der Waldstätte gelegt gewesen.

Im letzten Kapitel wendet sich Sablonier dem Bundesbrief von 1291 – der "Gründungsurkunde" und Nationalreliquie der Schweiz – zu, die er als Nachherstellung aus der Zeit um 1309, also nach der Ermordung Albrechts von Habsburg und der Wahl Heinrichs VII. von Luxemburg deutet. Als wahrscheinlichsten Ereigniskontext, der zur Kompilation des Landfriedensbündnisses aus älteren Einigungen führte, stellt er die Schaffung einer Reichsvogtei durch Heinrich VII. zu Gunsten Werners von Homberg heraus. Der Bundesbrief ist seiner Meinung nach kein Zeugnis antiherrschaftlichen politischen Gestaltungswillens der Einwohner, sondern dokumentiere vielmehr Versuche der Herrschaftsbewahrung durch Werner von Homberg, der mit diesem Schriftstück habe beweisen wollen, dass er fähig und gewillt war, den Landfrieden aufrechtzuerhalten (S. 176). Erst die Befreiungstradition habe dann seit dem 16. Jahrhundert die Interpretation als "Bundesbrief" etabliert.

Am Ende steht die Erkenntnis, dass die frühen "Schweizer" Bündnisse als reine Landfriedensvereinbarungen zu verstehen sind, die untereinander in keinem direkten Zusammenhang stehen und die ohne nationale Implikation als Reaktion auf tagespolitische Anforderungen zu verstehen sind. Die zentrale Rolle spielte weniger bäuerliches Streben nach Freiheit als adeliges Bemühen um Herrschaftsbewahrung. Die Sprengkraft dieser Ergebnisse wird heute freilich eine andere sein als zu Zeiten der nationalen Integration der Schweiz.

Anmerkung:
1 Guy Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, Basel 2006.

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